SFB 1472
Zusammenfassung des Forschungsprogramms
Das Populäre ist in unserem Alltag allgegenwärtig. Für die meisten Menschen scheint klar, was darunter zu verstehen ist. Fasst man das Populäre positiv, dann ist es das Beliebte, das Reizvolle. Vielleicht etwas Volkstümliches, das im Gegensatz zum (vermeintlich) Elitären steht. Wenn das Populäre hingegen kritisch betrachtet wird, dann ist es gleichbedeutend mit dem Trivialen, dem Gemeinen, dem Schematischen. Dann identifiziert man es mit Massenkultur und Kulturindustrie. In unserem Sonderforschungsbereich (SFB) wollen wir diese Wertzuschreibungen vermeiden und von einer neutralen Bestimmung des Populären ausgehen: Populär ist, was bei vielen Beachtung findet. Und diese Beachtungserfolge werden gemessen. Wie populär etwas ist, das zählt man aus. Und wichtiger noch: diese Beachtungserfolge werden auch ausgestellt und inszeniert. Rankings und Charts geben über das Populäre Auskunft und werben ihrerseits um Aufmerksamkeit. Beachten soll man, was Beachtung gefunden hat.
Wichtig: Über die Qualität oder Originalität des Populären ist damit nichts gesagt. Dass etwas Beachtung gefunden hat, wird zum Wert an sich. Nicht das gute, sondern das populäre Produkt wird von vielen gekauft. Nicht die beste, sondern die populäre Musik wird gehört. Nicht die wichtige, sondern die populäre Nachricht wird vielfach geteilt, geliked und retweetet. Populär kann auch das ‚Unpopuläre‘ sein: der unbeliebte Politiker, der verachtete Ohrwurm, die befürchtete Maßnahme. Das Populäre verändert all das, dem es Beachtung verschafft. Wenn etwas als ‚Bestseller‘, als ‚Outperformer‘, als ‚Highscore‘ oder ‚viral‘ bezeichnet wird, kommt ihm ein Wert zu, der über das hinausgeht, was es der Sache nach ausmacht.
Umgekehrt läuft das Nicht-Populäre – all das, was keine messbare Resonanz findet – Gefahr, als irrelevant und wertlos zu gelten, eben weil es in keinem Ranking oder Rating auftaucht. Das gilt selbst für solche Bücher, Musik, Kunstwerke, die lange Zeit unbestritten der bürgerlichen Hochkultur zugerechnet wurden. Verlieren sie nachweislich an Beachtung durch viele, müssen sie den Nachweis antreten, warum man sie weiterhin beachten soll. Egal für wie wertvoll, gut, schön sie angesehen sind. Das nennen wir in unserem Siegener SFB: Umkehr der Beweislast. Es reicht nicht mehr, dass etwas wertvoll, gut und schön ist. Es muss auch nachweislich populär sein.
Wir untersuchen, in welchen gesellschaftlichen Bereichen solche Beachtungserfolge ermittelt werden und welche Folgen dies hat. Eine bedeutsame Folge lässt sich schon jetzt feststellen: Das Wissen von Expert:innen gerät durch das Populäre unter Druck; sie können sich nicht mehr auf ihren Status als Wissende verlassen. Stattdessen müssen auch sie zunehmend ihre Expertise durch Beachtungserfolge unter Beweis stellen. – Wie ist das zu erklären?
Die zentrale Hypothese unseres SFB lautet: Seit etwa um 1800 gibt es die wirkmächtige Unterscheidung von Hochkultur (high) und vermeintlich niederer Kultur (low). Seit um etwa 1850 beginnt in westlichen Gesellschaften der Aufstieg der Populärkultur. Sie sorgt dafür, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts – spätestens mit der globalen Beachtung westlicher Popmusik seit um 1950 – die alte Unterscheidung von high und low abgelöst zu werden beginnt durch eine neue Unterscheidung: die des Populären und des Nicht-Populären. Im Ergebnis ist das Populäre heute nicht mehr die Kultur der ‚niederen Schichten‘ oder Vereinnahmung des ‚Volkes‘ im Dienste der Aufklärung. Stattdessen gewinnt die Unterscheidung populär/nicht-populär in immer mehr Bereichen an Bedeutung. In der globalisierten Gegenwart kann keine Kultur das Populäre unbeachtet lassen.
Umfrage: Für wie populär/kulturell hochwertig hältst Du...?
Durch die Darstellung von high/low auf der einen Achse und populär/unbeachtet auf der anderen, entsteht ein Spannungsfeld, in dem sich beispielhaft verschiedene Artefakte positionieren lassen. Auf Grund des illustrativen Charakters der Grafik fehlt an den Achsen eine nummerische Einordnung. Dadurch ergibt es sich in einer kleinen Umfrage ein subjektives Bild zur Popularität dieser Artefakte und neue Spannungen entstehen. Zum Beispiel, wie und welche Metriken für welche Artefakte herangezogen werden können ... und schon sind wir mitten in einer Diskussion zu den Transformationen des Populären.
Ziel unseres SFB ist eine Theorie des Populären, die diese Transformationen des Populären nachvollziehbar macht. Und uns auch dazu verhilft, die Macht des Populären für unsere Gegenwartskultur zu kritisieren.
Wir untersuchen die Transformationen des Populären in drei verschiedenen Forschungsbereichen:
- A Pop: seit etwa 1950 gibt es – zuerst in der westlichen Welt, bald mit globaler Verbreitung – ästhetische Formen und Praktiken – vor allem im Kontext von elektrifizierter Musik, bildender Kunst und Tanz – , die sich der Devise verschreiben: STOP MAKING SENSE. Diese Kunst muss nicht schön, gekonnt sein. Es reicht, wenn sie von vielen beachtet wird. Und die Beachtung durch viele Teil einer genussvollen ästhetischen Erfahrung wird.
- B Popularisierung: Das sind Strategien der Verbreitung von Expertise, Hochkultur, wertvollem Wissen, die es seit der Aufklärung gibt. Im Zuge der Transformationen des Populären muss aber auch solche Popularisierung Beachtungserfolge nachweisen und inszenieren. Dann stehen Auflagenhöhen in Taschenbüchern, Chartplatzierungen auf Tonträgern, Zugriffszahlen auf Websites. Und staatliche Universitäten werden danach bezahlt, wieviel Absolvent:innen sie hervorbringen.
- C Populismen: Wir verstehen darunter Konflikte, die unweigerlich entstehen, wenn etwas zu Bedrohung wird, weil es viel Beachtung findet. Dann müssen Institutionen, Organisationen und Individuen unter Beweis stellen, dass man sich dagegen zur Wehr setzt, obwohl es von vielen beachtet wird. In Populismen drückt sich aus, wie schwierig es ist zu vermitteln, dass etwas keine Beachtung finden soll, das nachweislich populär ist.
Kurz gesagt: Das Ziel und der wissenschaftliche Anspruch unseres SFB ist die Analyse unserer Gegenwart. Wir wollen herausfinden, wie das Populäre Gesellschaft und Kultur verändert.